Im Jahre des Herrn 1348 wütete in Florenz wie auch in anderen Teilen Europas die Pest. Wer sich angesteckt hatte, dem blieben nur wenige Tage. Pestärzte, gehüllt in lange Mäntel und Hauben mit schnabelförmigen Gesichtsmasken gingen von Haus zu Haus und konnten nicht helfen. Damals gab es nur wenige Kenntnisse über Hintergrund und Verlauf von Epidemien, viele gleichzeitig grassierende Krankheiten konnte die Medizin damals noch nicht unterscheiden. Wir wissen heute einiges mehr. Statt „Pesthauch“ sagen wir „Kontaktübertragung“, „Tröpfcheninfektion“ und „Aerosol“. Unsere Ärzte tragen keine Schnabel- sondern FFP2-Masken. 1348 hatte man mit dem Pesthauch zwar eine gar nicht so unzutreffende Vorstellung, wusste aber nicht, dass nicht allein Tröpfchen und Aerosole die tödliche Krankheit weitertrugen, sondern vor allem Flöhe und Ratten. Schließlich hatte doch fast jeder Flöhe. Die Wissenschaft diskutierte ganz andere Auslöser: „Als mögliche Ursache der Pest wurde von der Pariser Medizinischen Fakultät 1348 [...] noch ein komplexer Schöpfungsakt magistraler Kräfte mit Ineinandergreifen von terrestrischen und kosmischen Voraussetzungen beim Zustandekommen der Seuche bzw. des Pesthauchs angesehen.“ (Wikipedia, Geschichte der Pest). Einige Jahre später verstand man zumindest soviel von der Ausbreitung, dass man die Kranken von den Gesunden sonderte. Üblich waren 40 Tage, wovon der Begriff der Quarantäne (frz. quarantaine: „ungefähr 40“) herrührt.
In seinem wenig später entstandenen Hauptwerk Il Decamerone beschreibt Giovanni Boccaccio, wie zehn junge Florentiner Bürgerinnen und Bürger den Einfall hatten, dem Wüten der Pest zu entfliehen. Sie hatten sich, so sagt es das Buch, eines Morgens zufällig in einer Kirche getroffen, wo sie den Entschluss fassten, es Anderen gleich zu tun und sich vor der Krankheit auf einen Landsitz vor der Stadt flüchten. Um dort keine Langeweile aufkommen zu lassen, machten sie untereinander ab, dass an jedem Tage jeder der zehn eine Geschichte zur Erbauung und Erheiterung der anderen erzählen sollte, gleich ob kurz oder lang. So füllen das Buch der Zehn Tage, das Dekameron, hundert Geschichten, die das gesellschaftliche und Sittenleben der italienischen Renaissance dokumentieren. Manches davon ist uns fremd, vieles aber auch immer noch vertraut. Noch immer gibt es Gerechte und Gauner, Liebende und Betrüger, Reich und Arm, Weise und Törichte, Mächtige und Ohnmächtige.
Unsere Pandemieerfahrung ist in manchem ähnlich. Die Krankheit breitet sich rasch aus, das Verständnis der Vorgänge und Abwehrmaßnahmen erreicht nicht jeden, und an manchem Narren scheitert jede Aufklärung. Mitfühlende Vernunft fällt bei einigen dem Glauben an einen komplexen Schöpfungsakt magistraler Kräfte mit Ineinandergreifen von terrestrischen und kosmischen Voraussetzungen zum Opfer, und mancher, der diesen Glauben lange genug gepflegt hat, wird selbst ein Opfer der ineinandergreifenden Kräfte, nicht im Pestlazarett, sondern auf der Intensivstation. Mancher Tor vermutet heute die magistralen Kräfte in Berlin.
Unsere Erfahrung ist jedoch auch eine andere als zu früheren Zeiten, weil uns heute viel schneller das Mitgefühl abhanden zu kommen scheint. War es damals die Überwältigung von der kraftvollen Ausbreitung der Krankheit, die ganze Landstriche entvölkerte, die nicht mehr handhabbare Zahl Verstorbener, die zunächst zum Abwenden, dann zum Verdrängen führte, zuletzt sicherlich in Zynismus und Apathie endete, so waren die Krankheit und die von ihr betroffenen Menschen doch immer sichtbar und erlebbar. Heute isolieren sich viele an Heimarbeitsplätzen oder werden isoliert in Altenheimen. Ausgangsbeschränkungen bringen das kulturelle Leben, ja unser gewohntes Leben insgesamt in die Defensive. Wer sich verantwortlich fühlt, bleibt zu Hause, schränkt die Kontakte ein und sucht nach Wegen, um seine älteren Angehörigen nicht in der Isolation den Verstand verlieren zu lassen.
Aufmerksame Beobachter beklagen immer öfter den Verlust von Wortschatz, Sprachkultur und Differenzierungsfähigkeit. Konflikte in „virtuellen“ Arbeitsgruppen, aber auch in Familien eskalieren rasch, weil die Körpersprache als Frühwarnsystem, als eigentlicher Informationskanal zur vertrauenstiftenden Selbstversicherung ausfällt. Videokonferenzsysteme können diesen Mangel nur mindern, nicht beheben.
Lasst uns versuchen, die Technik zu nutzen, um zurückzugewinnen, was uns gerade verloren gegangen ist. Ich möchte Euch einladen, in der nächsten Zeit mit mir der Idee des Dekameron nachzuspüren. An zwei Abenden in der Woche wird es eine Videokonferenz geben, in der wir uns Geschichten erzählen können, selbst oder von anderen erlebte und erdachte, kluge, humorvolle und nährende. Das Spektrum darf weit aufgefasst werden. Selbst Erlebtes und Verfasstes, literarische Vorlagen, Ideen zur Rettung der Welt, Kochrezepte (Nein, wirklich? Ja, sicher!) oder dadaistische Performances liegen eher in der Mitte als am Rand des Denkbaren. Man darf erzählen, vorlesen, -spielen und -singen, Bilder zeigen und mehr, alles ohne Maske – und hier wird man erleben können, dass einem zugehört wird.
Was wird dazu gebraucht?
Los ging es am 8. Januar 2021. Seitdem gibt es eine wechselnde Gruppe von Teilnehmern, die sich regelmäßig „virtuell“ treffen und miteinander Spaß haben, von ihren Erlebnissen und Ansichten erzählen, etwas vorlesen oder auch bloß zuhören und beobachten. Aus der ursprünglich geplanten halben ist rasch eine ganze Stunde geworden.
Technisches. Zu technischen Problemen gibt es ein paar Tipps und Tricks.
Literatur usw. Eine Übersicht über Literatur und Anderes, was zur Sprache kam, gibt es hier.
Montag, 10. Mai | Donnerstag, 13. Mai |
Montag, 17. Mai | Donnerstag, 20. Mai |
Montag, 24. Mai | Donnerstag, 27. Mai |
Montag, 31. Mai | Donnerstag, 34. Mai |
Wenn nichts Anderes beschlossen wird, machen wir so weiter. Wer erst später hinzukommen möchte, ist genauso herzlich willkommen, und das bleibt auch so.
Herzliche Grüße
9. Mai 2021